2. Schwindende Freiheit

6527 0 0

Es verwundert mich doch immer wieder, worüber Dogmatiker bereit sind, hinwegzusehen, wenn es ihnen dienlich erscheint. Dann werden Regeln gedreht und Prinzipien, ohne mit der Wimper zu zucken, über Bord geworfen. Nun als Regelbrecher ist es nicht an mir, in dieser Sache zu urteilen, doch Wundern tut es mich allemal.

"Möchten Sie noch einen?", fragte mich der Barmann, mit einem Lächeln auf den Lippen. Ich schätzte ihn auf knapp fünfzig. Die grauen Haare begannen sich bei ihm bereits im schwarzen Haar durchzusetzen. Wann mir das wohl blühen würde? Über vierzig war ich ja nun auch schon.

Wie die Kellner trug er ein weißes Hemd und dazu eine schwarze Weste. "Oder dürfen es zwei sein?", schob er nach.

Seitlich am Bartresen lehnend, schmunzelte ich. Die Ärmel meines kobaltblauen Hemdes hatte ich hochgekrempelt. Es war figurbetont geschnitten. Ich genoss den letzten Rest meines Whiskys und blickte noch einmal quer durch den Raum.

Vor einer kleinen kreisrunden Bühne saß ein junger Mann, den ich bereits seit inzwischen drei Abenden im Blick hatte. Seine hellbraunen Haare waren sportlich kurz geschnitten und er machte einen durchaus fitten Eindruck auf mich. Dem Barmann war meine Neugier mitnichten entgangen. Mein Blick huschte noch über den halbnackten Mann, der sich an einer Stange auf der Bühne rekelte, bevor ich mich wieder dem Barmann zu wandte. "Zwei klingt hervorragend. Können Sie was empfehlen?"

Er nahm mein Whiskyglas vom dunklen Eichenholztresen und stellte es in eine Spüle vor sich. Das gesamte Etablissement war in diesem Holzton gehalten. Im flackernden Licht der zahlreichen Kerzen auf den kleinen runden Tischen, welche verteilt im Raum sich um insgesamt acht Bühnen gruppierten, wirkte es schlicht und elegant. Nur die Bühnen und der Barbereich waren mit modernen Kristalllampen ausgeleuchtet, die ein warmes Licht spendeten.

"Nun für einen Stammgast …" Bei diesen Worten schaute er in dieselbe Richtung wie ich gerade eben und warf sich das Geschirrtuch über die Schulter. "Würde ich einen Rubinienlikör empfehlen. Eine angenehm milde, fruchtige Note."

Mit seinem warmen Lächeln, welches erstaunlich gut mit seinem grau melierten Schnauzer harmonierte, war mir der Barmann sofort sympathisch.

"Klingt ausgezeichnet", meinte ich. Aus der kleinen Stecktasche meiner rechten Hosentasche fingerte ich einen Schilling empor. Eine Silbermünze, etwas größer als mein Daumen. Im Zentrum der Münze war ein kristallenes Relief, das die Insignien des Imperiums zeigte. Zwei in sich umschlungene Drachenköpfe. Im Licht der Kristalllampen der Bar war ein leicht bläulicher Schimmer im Kristall zu erkennen. Ich schob den Schilling über den Tresen. "Dann versuch’ ich mal mein Glück."

Mit einem ermunternden Nicken verabschiedete er mich. "Ich werde Ihre Bestellung erwarten." Sowie er den Schilling berührte, verschwand der bläuliche Schimmer. Wie geplant.

Ein Duett aus Streicher und Saxofon boten am heutigen Abend atmosphärisches Hintergrundrauschen. Ich schlängelte mich zielgerichtet zu dem jungen Mann durch, dem ich meine Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Um meine Stimme nicht heben zu müssen, lehnte ich mich zu ihm runter. "Darf ich mich dazu gesellen?"

"Sicher. Sicher", erwiderte er leicht überrascht. Er hatte dem Adonis unweit von seinem Tisch wie in Trance zugeschaut.

In dem Glas vor ihm war bereits der letzte Eiswürfel am Schmelzen. Es war schon das fünfte Glas gewesen. Zwei mehr als die letzten beiden Abende. Die beiden obersten Knöpfe seines dunkelroten Hemdes hatte er aufgeknüpft.

Das flackernde Kerzenlicht war zusammen mit dem Restlicht der Bühne gerade hell genug, um seine Gesichtszüge erkennen zu können. Obwohl er auf die dreißig zuging, hatten sie noch etwas Jugendliches an sich. Den Militärdienst hatte er nie erleben müssen.

"Was treibt dich in diese Stadt?", fragte er, mit der Aufmerksamkeit weiter auf die Bühne gerichtet.

"Bin auf der Durchreise. Als freier Händler ist man irgendwie immer auf Achse."

"Und da verschlägt es dich hierher?", fragte er. Die Aufmerksamkeit, die ihm der Alkohol noch ließ, richtete sich plötzlich gänzlich auf mich.

Hatte ich da einen wunden Punkt getroffen?

"Ein solches Etablissement findet sich nicht an jeder Straßenecke und schon gar nicht in jeder Stadt", erwiderte ich mit einem wissenden Schmunzeln.

"Darum geht es dir also?" Sein Blick löste sich wieder von mir.

"Das kommt darauf an", konterte ich. "Genau genommen, wollte ich ein paar letzte Abende in dieser Bar genießen, bevor auch diese Stadt uns verjagt."

"Du bist doch Händler, was macht es dir aus, die Stadt zu wechseln?"

"Heute mag das so sein. Als ich noch Forscher wie du war, habe ich den Freigeist geschätzt."

Er legte mir zugewandt den Kopf zur Seite. Er machte einen abschätzenden Eindruck auf mich. "Wie kommst du darauf, ich sei ein Forscher?"

Selbstsicher lehnte ich mich zurück. "Du lebst in einer Universitätsstadt und die Dogmatiker lassen dich ungehindert diese Bar besuchen. Welcher anderen Berufsgruppe sind diese Freiheiten vergönnt?"

"Ich könnt doch auch ein Tänzer sein", entgegnete er verschmitzt.

"Oh, da hätte ich nichts gegen einzuwenden, doch sehen wir es ein, weder du noch ich rekeln uns hauptberuflich so professionell an einer Stange."

Er lachte für einen Moment auf. "Ok. Ok, du hast mich. Vielleicht spricht da der Alkohol aus mir, aber du bist nicht auf den Kopf gefallen."

"Erlaubst du?", fragte ich und griff in die Schale, die neben der Kerze auf unserem Tisch stand.

"Das wird aber mein Letztes sein für diesen Abend."

"Gewiss." Leider.

In der Schale befand sich ein grobes Pulver. Es waren zermahlene Seelenkristalle niederer Reinheit, die bei Kontakt mit der Kerzenflamme in verschiedene Rot- und Gelbtöne zerstoben.

Ein Kellner trat zu uns heran und beugte sich zu mir.

"Was darf es sein?"

"Zwei mal den Rubinienlikör, bitte."

"Sehr wohl."

Trotz seines angetrunkenen Zustands hielt er eine Konversation über die Vorzüge des Forschens, die möglichen Freiheiten ferner Länder und die Idiotie der imperialen Hunde aufrecht. Hier im Imperium hatte sich vor einigen Generationen die Religion Raktar durchgesetzt. Anfänglich als Mittel zur Besänftigung der Massen entwickelten sich unter den Glaubensvertretern immer radikalere Positionen. Wie die ausgeleierte Masche, dass Fortpflanzung die höchste Tugend einer ehelichen Partnerschaft sei. Oder dass Flammenbeherrscher sich dem Wohle des Volkes zu unterwerfen und allein ihm zu dienen haben.

Während des Gesprächs nutzte ich die Gelegenheit, näher an ihn heranzurücken. Nicht nur konnten wir uns so leichter unterhalten. Auch konnte ich so seine körperliche Nähe suchen. Nach seinem letzten Schluck schien ihm seine Eloquenz abhandenzukommen. Wie in Trance schaute er nun durch mich hindurch, während ich ihm das Glas aus der Hand nahm.

"Es wird Zeit, dass wir aufbrechen", flüsterte ich.

Dem Tänzer schnippte ich einen Schilling zu und hinterließ drei weitere auf dem Tisch. Bevor ich dem Forscher der imperialen Akademie aufhalf, beobachtete ich die Reaktion des Tänzers. Ich fragte mich, was er mit dem Schilling machen würde. Nur mit einem Slip bekleidet, gab es keine für mich offensichtlichen Verstecke für Hartgeld. Uh, faszinierend. Bemerkte ich, sowie er noch an der Stange schwebend zielgenau mit seinem großen Zeh den Schilling berührte. Er schob ihn auf dem Bühnenboden zu einem Versteck, denn im nächsten Moment war der silbrig glänzende Schilling verschwunden. Wir beide schmunzelten uns einander an und hielten noch einen Moment Augenkontakt.

"Oh, drei Schilling!", sagte der Kellner überrascht. Seine Überraschung übertönte die Instrumente der Musiker. "Junger Herr, das ist zu viel."

"Das passt." beschwichtigte ich ihn, das Schmeicheln überhörend. "Ich zahle für ihn mit. Vielen Dank für den Service die letzten Tage."

Wohl wissend, einem geschenkten Gaul nicht ins Maul zu schauen, nickte der Kellner dankend und verabschiedete mich und meine neue Begleitung. Auch wenn bei dieser sehr offensichtlich die Lichter aus waren.

< ... >
< ... >
< ... >
< Fragen der Innenrevision >

Innenrevision: "Wieso haben Sie den Barmann, Kellner und Tänzer für ihre Dienstleistungen überkompensiert?"

Richard Thal: "Das ist Ihre erste Frage? Ok. In meinen Augen lag keine Überkompensation vor. Meine Zahlung diente dem Erhalt meiner Tarnidentität."

Innenrevision: "Die Begründung ist unzureichend. Sie fühlten sich eindeutig persönlich verbunden. Die Hälfte wäre mehr als ausreichend gewesen."

Richard Thal: "Dann ziehen Sie es mir vom Lohn ab."

Innenrevision: "2,5 Schilling werden hiermit einbehalten. Zweite Frage: Wie konnten Sie sich sicher sein, dass das Personal sie ungefragt gehen lassen würde?"

Richard Thal: "Was bringt es, diese Frage zu beantworten?"

Innenrevision: "Wir sind befugt, Ihr Forschungsbudget zu beschneiden, wenn Sie in dieser Sache nicht kooperieren."

Richard Thal: "Schillinge, egal aus welchem Land, haben ein durchsichtiges Kristallrelief. Dieses Relief besteht aus Seelenkristallen, welche die Echtheit beweisen sollen, aber sie können auch für einen kurzen Moment Seelenflammen halten."

Innenrevision: "Anders gesagt, haben Sie die Zielperson, den Tänzer, den Kellner und den Barmann mit Ihren Seelenflammen beeinflusst. Korrekt?"

Richard Thal: "Ja."

Innenrevision: "Ist mit einer langfristigen Schädigung zu rechnen?"

Richard Thal: "..."

Innenrevision: "Die Frage wird zurückgenommen. Bitte fahren Sie mit Ihrem Erinnerungsprotokoll fort."

Für daran anschließende Operation Palingenese siehe: https://www.worldanvil.com/community/manuscripts/read/6707376984-midnightplay-operation3A-palingenese
Please Login in order to comment!